Automatisierter Straßenverkehr: “Es ist auch eine Frage des Wollens”

Professor Dr. Marcel Hunecke, Forschungsprofessor am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund, über die psychologischen Einflussfaktoren auf das Mobilitätsverhalten und die neue Rolle des Menschen im automatisierten und vernetzten Straßenverkehr der Zukunft.
Peter Rosenberger
Herr Professor Hunecke, in Ihrem Buch „Mobilitätsverhalten verstehen und verändern“ haben Sie sich mit den personenbezogenen und situativen Einflussfaktoren auf die Mobilität beschäftigt. Wie viele Kapitel müssen Sie neu schreiben, wenn sich der Straßenverkehr in ein Internet of Things verwandelt?
Völlig neu schreiben muss ich voraussichtlich kein Kapitel, aber es wird definitiv notwendig sein, die vorhandenen um einige wichtige Aspekte zu ergänzen. Ich denke da vor allem an das Informationsmanagement, das angesichts vieler zusätzlicher Mobilitätsangebote immer höhere Anforderungen an den Nutzer stellt. Neue Optionen verlangen neue Entscheidungen, und dabei spielen sowohl situative wie auch personenbezogene Einflussfaktoren eine Rolle, denn letztlich geht es auch im automatisierten Straßenverkehr um individuelle Präferenzen. Der große Charme des Autos rührt ja auch daher, dass ich mir über nichts Gedanken machen muss: Es steht vor der Haustür, ich kann jederzeit darüber verfügen. Das Auto, wie wir es heute kennen, ist also ein klassisches Autonomie-Objekt – und der Wunsch nach Autonomie gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen.
Also sehen Sie einen Zielkonflikt zwischen dem autonomen Fahren und dem menschlichen Autonomie-Bedürfnis?
Ja, zumindest sehe ich das Potenzial dazu. Wir Menschen sind zwar ungemein adaptiv und können daher mit automatisierten Systemen sicherlich sehr gut umgehen. Aber letztlich ist es auch eine Frage des Wollens. Aus meiner Sicht handelt es sich beim autonomen Fahren um eine weitgehend marktgetriebene Entwicklung, sie ist nicht von den Nutzern angeschoben worden. Umso mehr sollte man bei der weiteren Ausgestaltung der Technologien und vor allem bei der Organisation ihres Einsatzes die Psychologie im Auge behalten. Wenn die Menschen mit der Automatisierung assoziieren, dass sie etwas aus der Hand geben müssen, werden sie tendenziell eher mit Ablehnung reagieren. Nur wenn genügend Autonomie-Spielraum bleibt, kann das automatisierte Fahren seine Leistung auf die Straße bringen. Dieses Autonomie-Verständnis hat übrigens auch viel mit dem Wunsch nach Privatheit zu tun. Je mehr die Automatisierung des Straßenverkehrs diesen Wunsch respektiert, desto größer wird die Akzeptanz sein.
Wäre denn beispielsweise ein selbstfahrendes Taxi privat genug?
Auf jeden Fall. Taxis hätten schon heute eine weitaus höhere Attraktivität, wenn sie nicht so teuer wären. Sobald die Kosten für den Fahrer entfallen, werden sie plötzlich für viel mehr Menschen erschwinglich. Und dazu kommt die noch größere Privatheit – ein doppelter Gewinn gewissermaßen. Für die Kommunen allerdings entstehen dadurch erhebliche Nutzungskonflikte. Denn wenn morgen nicht mehr 30 Menschen in einem Bus sitzen, sondern jeder für sich in einem autonomen Taxi unterwegs ist, stellt sich die politische Frage: Wer hat Vorrang im Kampf um den vorhandenen Raum? Wollen wir wirklich noch mehr Straßen, um das wachsende Verkehrsaufkommen zu kanalisieren – oder nicht doch lieber Freizeitzonen und Einkaufspassagen?

Was halten Sie von der Idee flexibler selbstfahrender Kleinbusse, die den Passagieren dank hoher Priorität im Straßennetz klare Reisezeitgewinne versprechen?
Ich glaube, das könnte sehr gut funktionieren – vor allem als Alternative zur aktiven Mobilität auf der sogenannten letzten Meile, wo der Öffentliche Verkehr heute seine größten Defizite hat. Damit bliebe einerseits noch ein gewisses Maß an Privatsphäre gewahrt, und andererseits würde es die wichtige Forderung nach verstärkter kollaborativer Nutzung von Transportmitteln erfüllen, die sowohl im Hinblick auf den Verkehrsfluss als auch auf die Umweltverträglichkeit Vorteile bietet. Aber dafür ist es natürlich notwendig, dass sich die Kommunen frühzeitig mit dem Thema auseinandersetzen. Heute sind einige davon bekanntlich noch nicht einmal in der Lage, genügend Parkplätze für Carsharing-Fahrzeuge anzubieten. Solche Kleinbussysteme wären in der Umsetzung ungleich komplexer, aber nach meiner Überzeugung ein absolut sinnvolles Konzept – nicht nur für den urbanen, sondern auch für den ländlichen Raum.
Haben Sie den Eindruck, dass sich die Kommunen bereits intensiv genug mit den Herausforderungen und Chancen beschäftigen, die angesichts des automatisierten und vernetzten Straßenverkehrs auf sie zu kommen?
Verschlafen und zu wenig wahrgenommen wird das Thema sicherlich nicht. Nur dauert es leider oft sehr lange, bis entsprechende Entscheidungen fallen. Dabei ist eines ziemlich sicher: Wenn die autonomen Fahrzeuge erst einmal damit anfangen, Probleme zu bereiten, etwa durch eine Überflutung der Städte durch selbstfahrende Autos, wird es für die Kommunen definitiv schwieriger, notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Um beispielsweise eigene, priorisierte Spuren für selbstfahrende Kleinbusse zu etablieren, müssen sich die Kommunen schon heute mit zig Akteuren abstimmen. Und mit jedem Jahr, das bis dahin noch vergeht, werden es ein paar mehr.
Die Kommunen sollten also möglichst schon jetzt damit beginnen, den Wandel aktiv zu gestalten?
So ist es. Auch wenn es darum geht, bestimmte, gesellschaftlich gewünschte Zusatzkriterien festzulegen, lässt sich das früher sicherlich leichter bewerkstelligen als zu einem späteren Zeitpunkt. Ich würde zum Beispiel dringend empfehlen, für autonome Fahrzeuge von Anfang an emissionsfreie Antriebe auf Basis regenerativer Energien vorzuschreiben. Ansonsten führt der zusätzliche Verkehr zu einer kaum verantwortbaren Zuspitzung der heute schon brisanten Umweltproblematik.

Dass das Verkehrsaufkommen mit den autonomen Fahrzeugen steigt, steht für Sie außer Frage?
Ja. Natürlich lassen sich die automatisierten und vernetzten Verkehre der Zukunft effizienter abwickeln. Aber das, was man hier gewinnt, wird bei Weitem nicht ausreichen, um die Auswirkungen der zusätzlichen Nachfrage zu kompensieren. Man darf nicht vergessen: Das Unterwegssein im autonomen Fahrzeug bietet nicht nur für die Menschen einen Mehrwert, die bisher nicht Autofahren konnten, sondern auch für die, die es heute zumindest temporär nicht wollen, weil sie Angst davor haben, keinen Parkplatz zu finden oder im Stau zu stehen.
Auf dem Weg in die automatisierte Zukunft muss sich die mobile Gesellschaft von einigen ihrer über Jahrzehnte gewachsenen Projektionen verabschieden: Das Auto selbst darf kein Statussymbol mehr sein, das Autofahren kein Sinnbild von Freiheit und Individualität. Trauen Sie ihr das zu?
Wie gesagt: Die wirkliche Hürde, die es zu überspringen gilt, ist das Gefühl eines drohenden Verlusts von Autonomie. Im Vergleich dazu sind die genannten Projektionen deutlich leichter anzugraben. Der Wunsch nach Freiheit wird uns meines Erachtens nicht am Auto, wie wir es heute kennen, festhalten lassen, auch wenn die Industrie diese Sehnsucht mit symbolischen Bildern noch so sehr unterstützt. Auch das Streben nach Individualität dürfte nur ganz bestimmte Zielgruppen am Umstieg hindern. Und das Statusdenken betrifft weniger die Entscheidung, ob man Auto fährt oder nicht, sondern vor allem die Frage, welches Auto man fährt. Nach meiner Einschätzung wird das vor allem im Premiumbereich auch noch lange so bleiben.
Dann teilen Sie also nicht die Meinung des CEO des Uber-Konkurrenten Lyft, der für 2025 das Ende des privaten Autobesitzes voraussagt?
Nein, ganz und gar nicht. Bevor man über so etwas spricht, müsste man erst einmal überlegen, welche Gesellschaftsform nötig wäre, um das durchzusetzen. Das geht vermutlich eher in Richtung totalitärer Strukturen. Ich glaube, wir sollten hier nicht in Zeitfenstern denken – schon gar nicht in so kleinen.
“Flexible selbstfahrende Kleinbusse wären ein absolut sinnvolles Konzept – nicht nur für den urbanen, sondern auch für den ländlichen Raum.”
Sie setzen sich seit Jahren konsequent für die Förderung der aktiven Mobilität ein. Wird Ihre Arbeit komplizierter, wenn selbstfahrende Autos und Kleinbusse jederzeit nur noch einen Fingerzeig auf dem Smartphone entfernt sind?
Es könnte durchaus sein, dass sich der eine oder andere dann noch schwerer dazu motivieren lässt, zu Fuß zu gehen oder mit dem Rad zu fahren. Aber im Grunde ändert sich ja nichts an der Ausgangssituation: Der Großteil der Wege, die wir täglich zurücklegen, ist kürzer als drei Kilometer, da gibt es einfach keine bessere Option als die aktive Mobilität – allein schon im Hinblick auf Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität. Und in Zukunft kann die Automatisierung des Straßenverkehrs sogar dabei helfen, die allgemeine Verkehrssicherheit zu erhöhen und damit den einzigen echten Nachteil für Fußgänger und Radfahrer zu minimieren.
In Ihrem Buch betonen Sie, die Segmentierung von Nutzergruppen sei eine wesentliche Voraussetzung zur erfolgreichen Veränderung von Mobilitätsverhalten. Gilt das auch noch in Zeiten des automatisierten Straßenverkehrs?
Selbstverständlich. Ein relativ grobes Unterscheidungskriterium ist sicherlich das Alter der Adressaten. So dürfte es möglicherweise relativ schwierig sein, mit derselben Kampagne den Nerv sowohl der Digital Natives als auch der Digital Immigrants zu treffen. Das allein reicht für die Segmentierung aber sicherlich noch nicht aus. Um die Wirkung kommunikativer Maßnahmen zu erhöhen, sollten für die Differenzierung wohl auch mobilitätsspezifische Präferenzen eine Rolle spielen. Eine gezielt anzusprechende Gruppe könnten zum Beispiel diejenigen sein, die wirklich Spaß am Autofahren haben und sich deshalb nicht so ohne Weiteres mit dem Gefahrenwerden anfreunden wollen. Ganz woanders abholen muss ich vielleicht Menschen, für die das Selbstfahren tatsächlich symbolisch mit Individualität aufgeladen ist.
Gilt denn für die Wahl der Kommunikationskanäle dasselbe Differenzierungsgebot wie für Contents und Tonality?
Nein, der mit Abstand effektivste Weg zur Beeinflussung des Mobilitätsverhaltens ist und bleibt der persönliche Kontakt zum Nutzer. Mit pointierten E-Mails und grellen Websites allein dürfte immer weniger zu machen sein in einer Welt, in der man sich vor virtuellen Informationen kaum noch retten kann. Die Autohäuser setzen nicht ohne Grund nach wie vor auf Aktionstage mit Hüpfburgen und Würstchen. Optimal wäre es, wenn man irgendwie in die individuellen Netzwerke der Menschen kommt. Denn was einer aus dem inneren Kreis schon mal probiert hat und toll findet, generiert in der Regel deutlich mehr Aufmerksamkeit.
Mit welchen Emotionen sehen Sie eigentlich selbst dem automatisierten Straßenverkehr entgegen?
Sagen wir mal: mit gemischten Gefühlen, weil die wirklich wichtigen Fragen damit nicht unmittelbar adressiert werden. Aus meiner Sicht stehen die Umstellung auf emissionsfreie Antriebssysteme und die Erhöhung der Auslastung des Öffentlichen Verkehrs im Fokus. Wenn die Automatisierung dazu beiträgt wie mit den flexiblen selbstfahrenden Kleinbussen und der Vernetzung von Informationen, ist das natürlich wunderbar. Aber sie sollte nicht rein marktgetrieben davon ablenken, dass die wesentlichen Probleme woanders liegen.
Herr Professor Hunecke, wir danken Ihnen für das Gespräch.
29.10.2018
Peter Rosenberger arbeitet als Journalist in Birkenau
Picture credits: iStock/Olivier de Moal, iStock/Scharfsinn86, Professor Dr. Marcel Hunecke
Professor Dr. Marcel Hunecke
Professor Dr. Marcel Hunecke (Dipl.-Psych. M.A.) ist seit 2009 Professor für Allgemeine Psychologie, Organisations- und Umweltpsychologie am Fachbereich für Angewandte Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. Er hat sich im Dezember 2008 an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum für das Gebiet „Angewandte Psychologie“ habilitiert und ist seitdem dort als Privatdozent Mitglied in der Arbeitsgruppe für Umwelt- und Kognitionspsychologie. Er wirkte an über 25 Forschungsprojekten mit inter- und transdisziplinärer Ausrichtung im Bereich der Nachhaltigkeits- und Mobilitätsforschung als Mitarbeiter, Leiter und Koordinator mit. Seit 2014 hat er eine Forschungsprofessur an der FH Dortmund inne und leitet dort den Masterstudiengang „Soziale Nachhaltigkeit und demografischer Wandel“.