Die Frage der Zeit

Das Spannungsfeld Mobilität bewegt sich zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite steht die alte Forderung nach freier Fahrt für freie Bürger – auf der anderen der neue Wunsch nach Rückgewinnung des urbanen Raums als lebenswertes grünes Umfeld. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Aber wo genau könnte das sein?
Aus heutiger Sicht scheint sie so herrlich unkompliziert, die Welt der Mobilität in den Wirtschaftswunderjahren. Ein zentrales internationales Leitmotiv damals war die autogerechte Stadt – ein Konzept, für das der deutsche Architekt und Stadtplaner Hans Bernhard Reichow in seinem Buch ebenso klare wie einfache Handlungsempfehlungen bereitstellte, die sich pointiert verkürzt auf diesen Nenner bringen lassen: Alle Macht gehe vom Auto aus. Ganz konkret bedeutete das: Sämtliche Planungsmaßnahmen sollten sich dem automobilen Verkehrsfluss unterordnen, selbst wenn das mit erheblichen Eingriffen in die vorhandene Bausubstanz verbunden wäre.
Ernsthafte Zweifel an der weitgehend eindimensionalen Sichtweise regten sich eigentlich erst nach Veröffentlichung des so genannten Buchanan-Reports „Traffic in towns“ 1963, der zwischen notwendigem und beliebigem Autoverkehr differenzierte. Die britischen Autoren plädierten darin für eine konsequente Eindämmung eben dieser unnötigen Fahrten, deren extreme Zunahme sie für eine der Hauptursachen der schon damals grassierenden Verkehrsprobleme hielten. Außerdem war in der Studie bereits ganz konkret von umfeldabhängigen Kapazitäts- und Geschwindigkeitsbegrenzungen sowie von drastischen Restriktionen in besonders schützenswerten Gebieten die Rede.
Von der autogerechten Stadt zum stadtverträglichen Verkehr
Gleichsam als Gegenentwurf zur autogerechten Stadt formierte sich anschließend allmählich das Leitbild des stadtverträglichen Verkehrs. Es sollten aber noch einige Jahrzehnte vergehen, ehe die neue Fraktion der alten wirklich auf Augenhöhe begegnen konnte. Wie sehr die Automobilität vor allem in den Industrieländern bis dahin längst zum Sinnbild persönlicher Freiheit geworden war, zeigte sich besonders deutlich während des arabischen Ölembargos in den Jahren 1973 und 1974. In den USA beispielsweise haben sich Autofahrer damals in den Warteschlangen vor den Tankstellen tatsächlich gegenseitig erschossen oder niedergestochen. Und in Deutschland erklang nach vier autofreien Sonntagen und einem sechs Monate lang gültigen allgemeinen Tempolimit erstmals der Slogan, der danach zu einer Art Parole einer stimmgewaltigen automobilen Bürgerrechtsbewegung wurde: „Freie Fahrt für freie Bürger!“
Inzwischen ist die mobile Gesellschaft zum Glück einen Schritt weiter. Denn dass sich die Probleme von heute und morgen nicht mit Rezepten von gestern lösen lassen, bezweifelt spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts kaum noch jemand. Dazu sind die dringenden Herausforderungen zu wuchtig – und gleichzeitig zu unterschiedlich. So gehen Experten beispielsweise davon aus, dass sich 90 Prozent des künftigen Bevölkerungswachstums in Städten konzentrieren wird, wo schon seit 2008 insgesamt mehr Menschen wohnen als auf dem Land. Und mit dem Lebensraum ballen sich naturgemäß auch die Verkehrsprobleme. Die abnehmende Lebensqualität ist dabei nur ein Aspekt des Problems – ein anderer lässt sich in Euro und Cent bemessen. Allein in Deutschland, so das Ergebnis einschlägiger Hochrechnungen, verursachen die durchschnittlich rund 1.000 täglichen Staus einen volkswirtschaftlichen Schaden von rund 100 Milliarden Euro pro Jahr.
Viele evolutionäre Entwicklungen – und dazu eine echte Revolution
Letztlich noch bedrohlicher erscheinen die Szenarien im Hinblick auf den Klimawandel, über dessen Ursachen und Folgen eigentlich nur noch unter Verschwörungstheoretikern gestritten wird – in Kreisen führender Wissenschaftler kaum noch: Bei denen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Auswirkungen für unseren Planeten verheerend wären, wenn es nicht gelingt, die von Menschen verursachten Treibhausgas-Emissionen drastisch zu reduzieren. Vor diesem alarmierenden Hintergrund hat sich gerade auch im Bereich Mobilität, der für mehr als ein Viertel des gesamten Endenergieverbrauchs verantwortlich ist, der Stellenwert umweltbewussten Denkens in den letzten Jahren drastisch erhöht. Aus einem „Nice to have“ wurde längst ein absolutes „Must“.

Doch so weitreichend die Entwicklungen auch sein mögen, die die Urbanisierung und der Klimawandel bereits angestoßen haben und notwendigerweise noch anstoßen werden: Die meisten davon folgen noch evolutionären Mustern, während sich gleichzeitig eine echte Revolution anbahnt: Mit dem automatisierten und vernetzten Fahren wird sich die Welt der individuellen Mobilität voraussichtlich radikaler verändern als jemals zuvor seit der Erfindung des Automobils vor über 130 Jahren. Denn die Art und Weise, wie wir uns auf der Straße bewegen, wird sich massiv verändern, genau wie das Erscheinungsbild unserer Städte, das sich an die Mobilität der neuen Generation anpassen muss.
Ein wichtiger Punkt ist: Es werden mehr Menschen mobil sein – denken wir nur an all diejenigen, die heutzutage nicht selbst fahren können, weil sie zu jung oder zu alt oder vorübergehend fahruntüchtig sind. Um eine Überflutung der Innenstädte durch autonome Taxis zu vermeiden, bedarf es innovativer öffentlicher Transportangebote, die es in Sachen Effizienz und Komfort mit den neuen Wettbewerbern aufnehmen können.
Ganzheitliche Lösungen ohne Wenn und Aber
Zu den veränderten Rahmenbedingungen, mit denen sich die Verkehrsplaner heute konfrontiert sehen, gehören nach Ansicht des Zukunftsforschers Matthias Horx auch tief greifende Veränderungen in der Motivation, die hinter dem Bedürfnis nach Mobilität stehen: „Die Gründe, warum wir unterwegs sind, haben sich im Lauf unserer Geschichte immer wieder deutlich gewandelt. Am Anfang waren wir alle Nomaden, später geriet Mobilität zum Privileg der Aristokraten und zum Attribut fahrender Handwerksleute. Mit Beginn des Industriezeitalters ging es dann vorwiegend darum, persönliche oder berufliche Vorteile zu erlangen. Und in der aktuellen Wissensgesellschaft haben wir es mit einem vielteiligen Puzzle an Motiven zu tun, das sich gerade jetzt wieder neu zusammensetzt. Es ist also ein Irrtum zu glauben, wir könnten den Wunsch nach Mobilität immer auf dieselbe Weise befriedigen.“
Das Zusammenspiel mehrerer Megatrends erfordert nicht nur ein Zusammenspiel der Transportsysteme selbst, sondern auch der maßgeblichen Player, die diese Systeme gestalten. Nur im Miteinander von Kommunen, Mobilitätsanbietern, Automobilherstellern und Infrastrukturspezialisten können Lösungen entstehen, die aus Problemen Chancen machen. Dr. Martin Zimmermann, der damalige Strategiechef der Daimler AG, bekannte sich Anfang 2011 in einem Interview mit dem ITS magazine ohne Wenn und Aber zu ganzheitlichen Lösungen: „Um es klipp und klar zu sagen: Wir begrüßen den Trend zur Intermodalität – und wir unterstützen ihn, wo wir können. Eine so große Herausforderung wie die Sicherstellung der städtischen Mobilität lässt sich auf längere Sicht nur gemeinsam vernünftig meistern.“
Höchste Zeit für neue Antworten auf neue Fragen
Aber was bedeutet all das denn nun konkret für die Positionierung der mobilen Gesellschaft im Spannungsfeld Mobilität, das sich zwischen zwei gegensätzlichen Polen bewegt: Auf der einen Seite steht die alte Forderung nach freier Fahrt für freie Bürger – auf der anderen der neue Wunsch nach Rückgewinnung des urbanen Raums als lebenswertes grünes Umfeld. Die Wahrheit liegt sicherlich irgendwo dazwischen. Wer es genauer wissen will, muss den Menschen zuhören, die dazu wirklich etwas zu sagen haben. Natürlich gibt es darunter auch skeptische Stimmen wie die von Professor Dr. Christoph Bernhardt vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, der in einem Essay in der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen“ unlängst zu einem ernüchternden Resümee kam: „Die autogerechte Stadt ist eine Untote – als Leitbild längst beerdigt, als gesellschaftliche Realität jedoch quicklebendig.“
Wir, die Straßenverkehrsexperten von Yunex Traffic, erleben da etwas anderes. Nach unserer Beobachtung haben sehr viele hochkarätige Akteure längst verstanden, dass es höchste Zeit ist, auf neue Fragen neue Antworten zu finden. Vier davon kommen in diesem Special zu Wort:
- Henrik Falk, Vorstandsvorsitzender der Hamburger Hochbahn AG
- Oliver Schmerold, Direktor ÖAMTC
- Professor Dr. Achim Kampker, Geschäftsführer der StreetScooter GmbH, einem Tochterunternehmen der Deutsche Post DHL Group
- Olivier Reppert, CEO car2go
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre – und laden Sie herzlich ein, uns Ihre Sicht der Dinge wissen zu lassen: ganz bequem per E-Mail an magazine@siemens.com.
9.4.2019
Peter Rosenberger, Journalist in Bodman-Ludwigshafen
Bildquellen: istock/mirjanajovic, iStock/querbeet